Was gerade in der Ukraine passiert, ist in den beheizten Lounges der Bundesrepublik kaum vorstellbar. Die Menschen bleiben wochenlang in ihren Kellern und leben von der letzten Dose, die sie haben. In den belagerten Gebieten müssen sie immer damit rechnen, von russischen Soldaten geschlagen zu werden – im schlimmsten Fall mit dem Tod. Bilder unter anderem von Kriegsverbrechen in Buchara erschrecken hierzulande und werfen einmal mehr die Frage auf, welchen Preis Deutschland zahlen kann und soll, um Russland und seinem Präsidenten Wladimir Putin die Grenzen aufzuzeigen. Marieluise Beck hat in den vergangenen Tagen die Verwüstung und den Krieg allein in der Ukraine gesehen. Die Grünen-Politikerin reiste nach Kiew, sprach mit Einheimischen und sagte am Sonntagnachmittag „Anne Will“: „Was da in der Ukraine passiert, ist so undenkbar.“ Das Leid der Menschen müsse Anlass geben, “vielleicht müssen wir überdenken, was wir ertragen können”. Der osteuropäische Think-Tank-Experte Zentrum Liberale Moderne beschäftigt sich mit dem Kernproblem der deutschen Debatte. Es gibt immer mehr Stimmen, die einen Stopp der Energielieferungen aus Russland fordern, um dem russischen Regime ernsthaften wirtschaftlichen Schaden zuzufügen. Aber Deutschland stünde angesichts der Seltenheit und Knappheit von Alternativen zu russischem Gas und in geringerem Maße zu Öl und Kohle vor einer großen Herausforderung. Können Wirtschaft und Gesellschaft das unterstützen? Veronika Grimm geht davon aus, dass dies möglich sein sollte. Der Volkswirt ist Mitglied des Beirats zur Bewertung des gesamtwirtschaftlichen Wachstums, also einer der fünf sogenannten Wirtschaftsexperten. Er zitiert Analysen, denen zufolge Deutschland bei einem Stopp der Importe mit einem Rückgang des Wirtschaftswachstums um 2,5 bis 6 Prozent hätte rechnen müssen. Weder mehr noch weniger. Er stellt aber auch klar: “Niemand hat gesagt, dass es einfach wäre, damit umzugehen.” Bei einem sofortigen Rückzug von Öl und Gas aus Russland müsste der deutsche Staat den Unternehmen beistehen.
Stoppen Sie den Import ja, aber nicht sofort
„Wenn man sich diese Bilder ansieht, ist jeder sofort bewegt zu sagen, dass wir das tun müssen, was jetzt ist, um diesen Krieg zu beenden“, sagte SPD-Chef Lars Klingbail zu den gruseligen Aufnahmen von Boutsa. Nach Angaben der ukrainischen Armee wurden in einem Vorort von Kiew mehrere Leichen von Zivilisten gefunden. Berichten zufolge wurden sie von russischen Streitkräften getötet und auf der Straße liegen gelassen. Klingbeil hält ein direktes Energieembargo für falsch. Es wird die „gewaltsamen Morde“ durch Putins Truppen nicht stoppen. „Wir drehen den Gashahn jeden Tag ein bisschen mehr zu“, sagte er mit Blick auf die Ampelregierung, die derzeit unter Finanzminister Robert Hubbek nach Alternativen zum globalen Gas-, Öl- und Kohlemarkt sucht. Klingbeil hat – zumindest in dieser Frage – einen Unterstützer von CSU-Chef Markus Söder. Ein sofortiges Verbot von Energieimporten würde in Deutschland zu gravierenden Bremsspuren führen, sagt der bayerische Ministerpräsident. Dadurch geraten große Teile der Wirtschaft aus der Bahn. Energieintensive Unternehmen müssten enorme Verluste erleiden. Einführungsunterbrechung erforderlich „So schnell wie möglich bin ich da, aber nicht über Nacht“. Dabei hat er laut Söder auch die Bürger im Blick, die ohnehin schon unter der hohen Inflation leiden. Seine Überzeugung: Der Ukraine muss geholfen werden, aber die Regierung engagiert sich auch für die Menschen in Deutschland. Das sind Millionen von Arbeitsplätzen.
Gefühl gegen politische Rede?
Söder bekräftigt in diesem Zusammenhang seine Forderung nach einer Fortsetzung der Kernenergie in den kommenden Jahren. Er ist kein “Fetischist”, aber Millionen von Haushalten werden von Atomkraftwerken mit Strom versorgt. So sieht das auch Ökonomin Grimm, die angibt, ihre Meinung in der Frage inzwischen geändert zu haben und nun für die Verlängerung zu sein. Von solchen Gedankenspielen dürfte SPD-Chef Klingbeil wenig halten. Im Gegenteil, betont er, Deutschland müsse es vermeiden, die Wettbewerbsfähigkeit seiner Unternehmen zu gefährden und letztlich autoritäre Regime wie China durch Industriemigration zu stärken. Peking bleibt Moskau treu und entwickelt sich langsam aber sicher zu einem der wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Verbündeten Russlands. Auf die heftigen Einwände des Grünen-Beck-Politikers, der in der Debatte die Notlage der Ukrainer betonte, entgegnet Klingbeil, er dürfe sich bei politischen Entscheidungen nicht emotional treiben lassen. Der stellvertretende Welt-Chefredakteur Robin Alexander wirft ihm und seinem Weggefährten Söder daraufhin vor, 2014/15 politische Fehler begangen zu haben, die Deutschland in die aktuelle Misere geführt hätten. Damals wurden Raffinerien und Lagerstätten an russische Unternehmen verkauft. Zu einem Zeitpunkt, “als die erste Welle dieses Krieges bereits im Gange war”, sagt der Journalist und verweist auf die rechtswidrige Annexion der Krim und der Ostukraine. Deutschland wurde in den Jahren, in denen Putin sich aufrüstete, immer abhängiger von Russland im Energiebereich.
“Wir reden über alte Sachen von der NVA”
Bei Anne Will geht es nicht nur um Energie, sondern auch um Waffen. Immer wieder protestieren Vertreter der Ukraine, die Bundesrepublik biete zu wenig. Der Klingbeil-Regierungsabgeordnete will der Sache nicht zu tief auf den Grund gehen. Er versichert, Deutschland biete mehr als öffentlich bekannt sei. Auf die Talkshow hat das wenig Einfluss. Laut Marieluise Beck biete Deutschland nicht das, was die Ukraine an Waffen verlange – „und es ist zu spät und es ist nicht genug“. „Wenn die Ukraine nur die Waffen hätte, die Deutschland geliefert hat, dann hätte Putin gewonnen“, sagte Alexander. Mit Blick auf die kürzlich freigegebenen Schützenpanzer weist er auch darauf hin: “Wir reden über alte Sachen von der NVA.” Für Beck, der ein überzeugter Befürworter ist, steht fest, dass die Bundesregierung in den kommenden Tagen sowohl bei der Rüstungsausstattung als auch in der Frage des Embargos entscheidende Schritte unternehmen muss. Über die aktuelle Berliner Politik sagt er: “Die Bitterkeit in der Ukraine und der Frust über die Deutschen ist kaum zu fassen.” Der Handlungsdruck ist groß. Es gibt bereits eine riesige Katastrophe in der Ukraine. Beck sagt, von dem Land werde in den nächsten zwei bis drei Jahren nichts übrig bleiben. Putin sei in der Lage, ganze Gebiete zu zerstören und sei zu allem bereit, “wenn wir uns nicht dagegen wehren”. Der frühere Bundestagsabgeordnete mahnt: “Wir müssen anfangen, Putins Worte ernst zu nehmen.”