Viele Tote am Stadtrand von Kiew – jetzt fordern Prominente und Politiker ein Ende der russischen Energielieferungen. 20 Minuten beantwortet die wichtigsten Fragen zur Boykottaufforderung.
1/8 Öl- und Gaslieferungen aus Russland: Das fordern jetzt viele Prominente und Politiker. REUTERS Hunderte Künstlerinnen und Künstler haben eine solche Petition an den Bundesrat unterzeichnet. Screenshot von Twitter.com/SamirFilmmaker Auch Linkspolitiker und Grüne unterstützen die Forderung. Screenshot von Twitter.com/GrueneCH
Nach dem Massaker in der Ukraine werden Konsequenzen gefordert. Prominente und Politiker wollen russisches Öl und Gas stoppen. Aber der Krieg wäre nicht früher zu Ende gewesen.
Nach dem Massaker in Bucha in der Ukraine, bei dem Hunderte Menschen ums Leben kamen, haben Menschenrechtsgruppen das russische Militär beschuldigt, Kriegsverbrechen begangen zu haben. Nun fordern 100 Wissenschaftler und Kulturschaffende die Schweiz auf, den Bezug von Öl und Gas aus Russland einzustellen. Energie aus Russland finanziere den Krieg, schreiben sie in ihrem Appell an den Bundesrat. Direktor Samir teilte den Brief ebenso auf Twitter wie SP-Nationalrat Fabian Molina. Dahinter stehen die Grünen. Welche Folgen hätte ein Boykott für die Schweiz? 20 Minuten beantwortet die wichtigsten Fragen rund um den Schaden. Nein. Der russische Militärkomplex sei weitgehend unabhängig von Wirtschaftsbeziehungen zum Westen, sagt Militärökonom Marcus Matthias Keupp in der 20. Minute. Die Waffen, die Russland jetzt in der Ukraine einsetzt, wurden bereits in der Vergangenheit hergestellt. Der Treibstoff und die Vorräte würden aus russischer Produktion stammen. Nur knapp. Wenn der Westen russisches Öl und Gas nicht kaufen würde, würden Länder wie China oder Indien einen Teil davon kaufen, sagt Matthias Geissbühler, Leiter Anlage bei Raiffeisen Schweiz, für 20 Minuten. Sollte dies nicht mehr möglich sein, könnte Russland dies laut Militärökonom Keupp mit Geldern aus dem Sozialfonds ausgleichen. Das würde aber nur kurzfristig funktionieren, ohne die Menschen zu verärgern, sagt Ökonomin Petra Huth von Huth Consulting. „Das russische Volk leidet bereits. „Eine solche Umverteilung würde den Bedarf noch weiter erhöhen“, sagte Huth in 20 Minuten. Eine Revolution sei aber nicht zu erwarten, sagt Ökonomin Anna Stünzi vom 20-Minuten Think Tank Forum. Laut Raiffeisen-Experte Geissbühler wäre ein Rücktritt möglich. Russisches Öl dürfte schnell ersetzt werden, etwa durch Norwegen oder Saudi-Arabien. Die Abhängigkeit von russischem Gas ist größer. Die Schweiz verbraucht nur elf Prozent ihrer Energie aus Erdgas – deutlich weniger als Deutschland. Aber der Ersatz dürfte frühestens in drei Jahren, wenn die LPG-Terminals gebaut werden, in Europa verfügbar sein. Die Hälfte des Gases in der Schweiz kommt aus Russland. Normalerweise zahlt die Schweiz monatlich rund 60 Millionen Franken für russisches Gas. Aufgrund hoher Preise sind es mittlerweile 126 Millionen Franken im Monat. Damit verdient Russland fast 70 Millionen Franken mehr. Die Folgen seien deutlich zu spüren, sagt Raiffeisen-Experte Geissbühler. Gas wird nicht nur zum Heizen, sondern auch in der Industrie benötigt. Einige Chemieunternehmen müssen möglicherweise die Produktion vorübergehend einstellen. Dies hätte Folgen für die gesamte Produktionskette. Viele Chemikalien sind Vorprodukte für die Automobilindustrie, für Konsumgüter und Kunststoffverpackungen. „Fast alle Produkte enthalten Petrochemikalien, gibt es sie nicht, werden die Produkte rar und teuer“, sagt Geissbühler. Militärökonom Keupp schlug in einem Interview mit der SonntagsZeitung vor, die Öl- und Gasmärkte zu fluten. Beispielsweise könnte Öl aus dem Iran helfen, das Überangebot zu reduzieren. „Wenn der Ölpreis unter 75 Dollar fällt, würde das Russland schaden“, sagte Keupp gegenüber 20 Minuten. Raiffeisen-Experte Geissbühler findet die Idee faszinierend, aber unrealistisch. Der wichtigste Ölproduzent Saudi-Arabien hat kein Interesse daran, die Märkte zu fluten und die Ölpreise zu senken, weil sonst die eigene Wirtschaft zusammenbricht. Auch Länder wie Angola oder Nigeria hätten keine Chance, die Produktion schnell zu steigern. Nein. Wenn die EU die Leitungen für russisches Öl und Gas kürzt, bekommt die Schweiz nichts, sagt Geissbühler. Sind Sie oder jemand, den Sie kennen, besorgt über den Krieg in der Ukraine? Hier findest du Hilfe für dich und andere: Anmeldungen und Informationen für Gastfamilien: