“Der bisherige Kriegsverlauf beruht auf massiven Fehlkalkulationen in der gesamten russischen Verwaltungs- und Entscheidungskette”, sagte Russland-Expertin Sabine Fischer gegenüber Focus. Für Fischer ist klar, dass die Überheblichkeit der Ukraine völlig unterschätzt wurde. „Deshalb waren manche Szenarien überhaupt nicht vorstellbar: zum Beispiel starker Widerstand aus der Bevölkerung.“ Bewohner verlässt Hersonissos: Feiert seine Freiheit mit einem Tweet „F*ck you Putin“ (00:47)
Putin trifft Entscheidungen in sehr kleinen Informationsblasen
Es ist jedoch erstaunlich, dass das allmächtige Russland so falsch gehandelt hat. Doch dafür gibt es laut Fischer einen klaren Grund. “In den 22 Jahren seiner Amtszeit hat Putin ein System geschaffen, das verhindert, dass bestimmte Informationen ihn jemals erreichen.” Die Sicherheitsdienste und die Expertengremien hätten wahnsinnige Schwierigkeiten, dem Kreml-Chef realistische und unangenehme Informationen zu übermitteln. Osteuropa-Experte erklärt: Darum ist Putin in Russland immer noch so beliebt (10:04) „Putin trifft seine Entscheidungen offensichtlich in einer sehr kleinen Informationsblase, was die Fehleranfälligkeit stark erhöht“, sagte Fischer. Die Pandemie hat Putin auch weiter isoliert. Der schleppende Kriegsverlauf wird dem Kreml-Chef zunehmend zum Problem. „Wir brauchen einen Sieg, denn alles andere würde seine Position in seinem Land extrem destabilisieren“, wagt Fischer eine Prognose. Deshalb steht Putin derzeit mit dem Rücken zur Wand. Er musste den Krieg fortsetzen, weil ihm das Kriegsziel „Befreiung des brüderlichen Volkes“ keine andere Wahl ließ.
Die Bevölkerung könnte bald genug haben
Bisher hat das russische Volk im Stillen seine Unzufriedenheit zum Ausdruck gebracht. Doch damit könnte bald Schluss sein. Denn die wirtschaftlichen Folgen für Russland sind schon jetzt enorm. „Die Lebensbedingungen der russischen Bevölkerung werden sich in absehbarer Zeit noch einmal deutlich verschlechtern und auch die Eliten werden betroffen sein“, sagte Fischer. Dass der Krieg immer mehr in die Bevölkerung eindringt, würde ihr die hohe Zahl russischer Opfer vor Augen führen, auch weil viele Familien betroffen waren. Swisspeace Goetschel CEO: Diese Sanktion wäre besonders schmerzhaft für Russland (01:52) Kurz gesagt, Putin hat alles zu verlieren. „Für Putin sind die Kosten des Krieges bereits zu hoch, als dass er sich zurückziehen könnte. „Auch bei einer Teilniederlage sollte er einen Sturz befürchten“, ist sich Fischer sicher. Wie bei Putin steht für die Ukraine alles auf dem Spiel. “Letztendlich wird sich die Frage nach Sieg und Niederlage aber danach richten, ob die Ukraine als souveräner Staat bestehen bleibt oder nicht”, sagte Fischer.
Die Anwesenheit der NATO beruhigt die baltischen Staaten
Aber nicht nur in der Ukraine fürchten die Menschen um die Zukunft. Betroffen sind auch die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Deshalb findet Fischer es richtig, dass die Nato im Baltikum ein klares Signal an Putin sendet und ihre Militärpräsenz verstärkt. “Russland sieht im Fall der Nato-Verteidigung immer noch eine rote Linie, die wahrscheinlich nicht überschritten wird.” Auch die Debatte um die Nato-Mitgliedschaft der neutralen Staaten Schweden und Finnland ist in der aktuellen Situation nachvollziehbar. Es würde die beiden Länder vor einem russischen Angriff schützen. Selbst dann konnten sie sich nicht sicher sein. Denn, wie Fisher es ausdrückt: „Nach den letzten Wochen ist nichts mehr auszuschließen.“ (ced)