Karl Nehammer: Es steht mir nicht zu, den Deutschen Bundestag zu bewerten – ebensowenig wie den österreichischen Nationalrat. Ich kann nur sagen, dass es eine verpasste Chance ist. Es hilft einfach, die Situation besser zu verstehen, wenn man den Menschen vor Ort zuhört. WELT: Österreich hat sich 1955 zur Neutralität verpflichtet. Sehen Sie in diesem Sinne den Krieg in der Ukraine anders als die Nato-Staaten? Karl Nehammer im Gespräch mit WELT-Autorin Anna Schneider Quelle: Jakob Glaser / ÖVP Nehammer: Als Staat neutral zu sein bedeutet auch, seine Neutralität zu schützen und zu verteidigen. Es bedeutet auch, dass Österreich – wie Deutschland – mehr in die Verteidigung investieren wird. WELT: Viele Länder fordern ein Öl- und Gasembargo gegen Russland, Österreich und Deutschland sind dagegen. Nun ist es für Russland durchaus nicht ausgeschlossen, auch Giftgas in der Ukraine einzusetzen. In diesem Fall würden Sie Ihre Position überdenken – mit anderen Worten: Gibt es eine Schmerzgrenze? Nehammer: Die rote Linie wird schon lange überschritten, zivile Städte werden angegriffen und bombardiert. Es ist eine zutiefst abstoßende Situation: Wir befinden uns in einer Abhängigkeit, die uns jetzt zwingt, weiterhin russisches Gas und andere russische Waren zu kaufen. Was Präsident Putin jedoch völlig missverstanden hat: Ganz Europa beginnt sich in Sachen Energieversorgung komplett neu auszurichten. Und nachhaltig. Das bedeutet, dass die Folgen für die Russische Föderation jetzt vielleicht nicht sofort eintreten, aber in 10, 15 Jahren massiv schmerzhaft sein werden. Lesen Sie auch Lesen Sie auch WELT: Bundesinnenministerin Nancy Pfizer will nicht, dass alle Flüchtlinge aus der Ukraine nach Deutschland registriert werden, wie es die Union fordert. Sehen Sie darin ein Sicherheitsproblem – und für Österreich? Nehammer: Die Registrierung von Flüchtlingen ist wichtig, denn nur dann kann die staatliche Hilfskette beginnen. Andererseits ist es für ein europäisches Land generell wichtig – wie wir später im Jahr 2015 erfahren haben – zu wissen, wer zu uns kommt und wer bleibt. Das ist eine Frage des Prinzips, und ja, es ist auch eine Frage der Sicherheit. Organisierte Kriminalität oder Menschenhandel etwa können nur bekämpft werden, wenn man alle auflistet, die ins Land kommen. WELT: Die Milliarden aus dem EU-Corona-Fonds sind noch nicht ausgegeben, da fordern Frankreich und Italien bereits das nächste Vehikel zur Rückzahlung der Schulden wegen des Krieges in der Ukraine. Wo sind die „wirtschaftlichen Vier“, nämlich Österreich, Schweden, Dänemark und die Niederlande? Nehammer: Die „wirtschaftlichen Vier“ sind da, wenn wir die EU-Gemeinschaftsverschuldung nicht als dauerhafte Institution sehen wollen. Bei der Schuldenkonsolidierung war ich aber eher skeptisch – die Pandemiekrise hat mich eines Besseren belehrt. Ich finde es richtig, in die Krise zu investieren. Das haben wir auch in Österreich sehr gut gemacht. Jetzt sind wir mitten im Nächsten und müssen zielgerichtet damit umgehen, denn letzten Endes geht es immer darum, den Lebensunterhalt der Bürgerinnen und Bürger zu sichern. Lesen Sie auch WELT: Das bedeutet aber, dass europäische Schulden ein fester Bestandteil werden könnten. um neue gemeinsame Anleihen bei der EU nicht auszuschließen. Nehammer: Die Einrichtung des Wiederaufbaufonds war ein einmaliges Beispiel in der Covid-Krise. Das meiste Geld aus diesem Fonds wurde noch nicht verteilt. Ich sehe derzeit nicht das Problem, dass die Mittel nicht ausreichen, sondern die Herausforderung, sie zielgerichtet einzusetzen. WELT: Was erwarten Sie in diesem Zusammenhang von Deutschland, von Bundeskanzler Olaf Solz? Nehammer: Ich hoffe auf Unterstützung bei der Ablehnung einer dauerhaften Schuldenreziprozität in der EU, dieses Gremium war krisentauglich, sollte aber nicht dauerhaft werden. Auf Dauer werden die öffentlichen Haushalte nicht alle Auswirkungen von Krisen auffangen oder ersetzen können. Das würde uns national und europäisch überfordern. Lesen Sie auch Krieg, Flüchtlinge, Krone WELT: War es angesichts steigender Fallzahlen sinnvoll, die Corona-Maßnahmen in Österreich Anfang März zu beenden? Nehammer: Es ist ein Unterschied, etwas im Nachhinein zu sehen oder etwas in Echtzeit zu entscheiden. Natürlich gibt es bei diesen Entscheidungen immer ein Risiko, es gibt keinen Experten, der eine endgültige Antwort oder Prognose geben kann. Früher waren wir viel dogmatischer in unseren Entscheidungen, aber in den zwei Jahren der Pandemie haben wir genau das gelernt: Dass das Virus brutal flexibel ist – und genauso flexibel müssen wir darauf reagieren. Auch wenn demokratische Entscheidungsprozesse oft lange dauern. Aber das soll keine Ausrede sein, wir haben auch Fehler gemacht. WELT: Was war rückblickend der größte Fehler in der österreichischen Corona-Politik? Nehammer: Zu glauben, dass das Virus im wahrsten Sinne des Wortes zählbar ist. Mich demütigt ein wenig die Frage, was man wirklich gegen einen Virus tun kann. Es war zum Beispiel eine Fehlkalkulation, nach dem ersten Lockdown zu glauben, wir hätten das Virus überwunden. Lesen Sie auch WELT: Ist die österreichische Corona-Impfpflicht gescheitert? Nehammer: Nein. Man muss sich genau anschauen, wie wir uns entschieden haben. Die Maßnahme und ihre Entscheidung wurden zum Zeitpunkt der Delta-Variante getroffen. Aufgrund der Gefahren der Delta-Variante war klar, dass uns ein kontinuierlicher Lockdown droht, wenn wir keine ausreichend hohe Impfrate erreichen. Klar ist aber auch, dass die Impfpflicht eine massive Verletzung des Selbstbestimmungsrechts darstellt – sie wird nicht leichtfertig aufgezwungen. Nun hat dieses Gesetz die Macht, Impfungen zur Pflicht zu machen – oder auch nicht. Und wenn – wie jetzt – weder die Normalstationen noch die Intensivbetten in den Krankenhäusern überlastet sind und die kritische Infrastruktur insgesamt nicht so gefährdet ist wie im vergangenen November, dann ist eine Impfpflicht verfassungsrechtlich nicht zulässig. Das ist also kein Rückschlag – diese Möglichkeit des Aufgebens war schon immer Teil des Plans. WELT: Deutschland diskutiert immer noch über die Einführung einer generellen Corona-Impfungspflicht, wie es in Österreich bereits der Fall ist. Was können wir an dieser Stelle von Österreich lernen? Nehammer: Der Schlüssel ist ein breiter Konsens. Das Gesetz zur Impfpflicht wurde im österreichischen Parlament mit 80 Prozent Zustimmung verabschiedet. Die zweite Herausforderung ist die Akzeptanz in der Gesellschaft. Geimpft gegen Ungeimpft – diese Polarisierung ist gefährlich für die Demokratie. Das ist das Wichtigste, was ich aus dieser Zeit mitgenommen habe. Lesen Sie auch WELT: Maskenpflicht in Innenräumen kehrt nach Österreich zurück – werden weitere Maßnahmen ergriffen? Nehammer: Es wäre arrogant, das auszuschließen. Dann hätten wir aus zwei Jahren Pandemie nichts gelernt. WELT: 2019 wurde die „Liste Sebastian Kurtz – Die neue Volkspartei (ÖVP)“ gewählt, nicht die ÖVP ohne Sebastian Kurtz. Aktuell liegt ihre Partei in den Umfragen bei 22 Prozent – ​​unter Kurtz hatte sie bei der Wahl 2019 noch 37,5 Prozent. Lesen Sie auch Nehammer: Es ist wahrscheinlich eine Mischung aus beidem. Natürlich war es für viele ein schwerer Schlag, als Kurtz die Politik verließ. All diese Verdächtigungen, die derzeit laut werden – es gibt noch keine Schuldigen – schaden in einem solchen Klima natürlich dem Ansehen der Partei. Man muss hartnäckig und entschlossen sein, um eine klare Linie zu haben. Und genau das gilt es jetzt zu tun. WELT: Wenn Sie Kanzler bleiben, schließen Sie eine Koalition mit der FPÖ – anders als Sebastian Kurtz – entschieden aus? Nehammer: Das hängt davon ab, wie sich die FPÖ entwickelt. Im Moment – ​​angesichts der Radikalisierung von Herbert Kickl – ja.