Stand: 23.08.2022 17:29 Uhr
Mit Russlands Krieg gegen die Ukraine ist TikTok auch zu einer Propagandaplattform geworden. Auch Raketenangriffe und Bilder von Leichen sind Minderjährigen zugänglich – und werden laut SWR nicht immer gelöscht.
Russlands Angriffskrieg in der Ukraine ist mit Bildern von Raketenangriffen und Leichen, mit Propaganda und Desinformation in die deutschen Kinderzimmer gelangt. Die chinesische Videoplattform TikTok spielt ihren jungen Nutzern sowohl gewalttätige als auch propagandistische Inhalte über den Krieg in der Ukraine vor. Das zeigen Recherchen des Rechercheformulars VOLLBILD des SWR.
Ein Selbstversuch macht deutlich, wie schnell sich TikTok-Nutzer in einem Tunnel aus Kriegsinhalten wiederfinden können: Das SWR-Rechercheteam erstellte drei neue TikTok-Konten, scrollte durch den Feed und sah sich nur Militärvideos vollständig an. Nach einer Stunde spielte TikTok fast ausschließlich Kriegsinhalte. Diese zufällig zusammengestellten Videos enthielten unter anderem Gewaltszenen, Leichen oder brutale Angriffe auf die Zivilbevölkerung. Gewalttätige und propagandistische Inhalte werden oft nicht klassifiziert.
TikTok gehört ByteDance, einem 2017 gegründeten Unternehmen mit Sitz in Peking, das vor allem für seine Tanz- und Musikvideos bekannt wurde. Laut App hat die App mehr als eine Milliarde Nutzer, meist junge Leute ab 13 Jahren. Schon vor Kriegsausbruch in der Ukraine nahmen politische Inhalte auf der Plattform zu. Diese Entwicklung erreichte mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine einen neuen Höhepunkt. Die App ist zum Schauplatz eines Informationskrieges geworden. Das Magazin „The New Yorker“ schreibt über den „ersten TikTok-Krieg“.
Der Datenanalyst Philip Kreissel arbeitet bei HateAid, einer gemeinnützigen Organisation, die Opfer digitaler Gewalt berät und unterstützt. Er sagt: „Das ist das Erfolgsrezept von TikTok. Der Algorithmus spielt nur Inhalte aus, die dem Nutzer gefallen und lange angeschaut werden. Er landet also in einem sogenannten „Kaninchenloch“. Es besteht die Gefahr, dass der Nutzer es tut.“ immer noch nur solche Videos gezeigt werden. Das könnten Videos von Katzen und Krieg sein.“
„Viking“ Balderson: „Es geht auch darum, Aufmerksamkeit zu erregen.“
Informationskrieg auf TikTok
TikTok ist zum Propaganda-Schlachtfeld im Ukraine-Krieg geworden: Der Informationskrieg auf TikTok hat den dänischen Sturm Karl Balderson zu einer Art Aushängeschild der ukrainischen Propaganda gemacht. Er stellt sich als „Viking“ vor und erreicht mit seinen Inhalten Millionen Nutzer auf Instagram und TikTok. Im Interview mit dem SWR sagt er: „Es geht nicht nur darum, Inhalte für Propaganda oder ähnliches zu produzieren. Es geht auch darum, Aufmerksamkeit zu bekommen.“ Sie nimmt in Kauf, dass ihre propagandistischen Inhalte auch Kinder und Jugendliche auf der ganzen Welt erreichen.
In Russland hat TikTok seit dem 6. März die Veröffentlichung jeglicher Inhalte verboten, um die Nutzer zu schützen, nachdem der Kreml sogenannte Fake-News-Gesetze eingeführt hatte. Sie drohen Bürgern mit bis zu 15 Jahren Gefängnis, wenn ihre Aussagen von der Darstellung des Kreml über den Krieg in der Ukraine abweichen. Auf TikTok kursiert jedoch weiterhin russische Propaganda.
Auch deutsche Influencer veröffentlichen Inhalte, die die Narrative des Kremls unterstützen. Influencer Deniz K. hat einen TikTok-Kanal und einen Podcast auf RT DE, einem staatlich finanzierten russischen Programm. Die Verbreitung seiner Inhalte ist aufgrund von Fehlinformationen seit dem 2. März in der gesamten EU verboten. In seinem Podcast spricht der Influencer unter anderem von „Hexenjagden“ in pro-russischen Ländern und hält Wladimir Putins Narrativ der Entnazifizierung für richtig. Obwohl TikTok seinen Account mehrfach gesperrt hat, konnte der Influencer seine Videos immer wieder auf einen neuen Account hochladen.
TikTok erzwingt nicht immer Community-Richtlinien
In den Richtlinien von TikTok heißt es: „Wir (sind) verpflichtet, die Verbreitung von Fehlinformationen auf der Plattform zu bekämpfen. (…) Unser Ziel ist es, sicherzustellen, dass TikTok ein Ort bleibt, an dem authentische und vertrauenswürdige Inhalte gedeihen.“ Unter anderem sollen Videos mit “körperlicher Gewalt, Kampfszenen und Folter in realen Szenarien” nicht hochgeladen werden.
Das Unternehmen versucht auf verschiedenen Wegen, gegen unangemessene Inhalte auf der Plattform vorzugehen. Nutzer können unter anderem Inhalte melden, die sie in der App als unangemessen empfinden. Sogenannte Content-Moderatoren beurteilen dann, ob die gemeldeten Inhalte gesperrt werden sollten. Das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz verpflichtet soziale Plattformen wie TikTok dazu, innerhalb von 24 Stunden auf gemeldete Inhalte zu reagieren. Wenn die Angelegenheit kompliziert ist, hat das Unternehmen eine Woche Zeit, um den Fall zu bearbeiten.
In einem Versuch meldete das SWR-Rechercheteam zwei Accounts und fünf Videos wegen gewalttätiger Inhalte. Nach 24 Stunden wurde nur eines der fünf Videos und keines der Konten gesperrt. Erst auf Nachfrage des SWR löschte TikTok alle gemeldeten Accounts und Videos – bis auf einen. Ein TikTok-Content-Moderator, der anonym bleiben möchte, sagte dem SWR: „Wir machen die wichtigsten Jobs, weil wir dafür sorgen, dass diese Plattform sicher ist. Und sie landet entweder im Kinderzimmer oder nicht.“ Allerdings gibt es auf der Plattform Videos, die sich Kinder nicht ansehen sollten. „Und ehrlich? Ich würde mein Kind nicht auf TikTok gehen lassen.“
Auf Anfrage heißt es bei TikTok: „Wir reagieren weiterhin mit verstärkten Schutz- und Sicherheitsressourcen auf den Krieg in der Ukraine, um neue Bedrohungen zu identifizieren und schädliche Fehlinformationen zu beseitigen.“ Darüber hinaus erwähnt TikTok auch die Zusammenarbeit mit unabhängigen Organisationen, die für sie Fakten überprüft haben.
Der Film „TikTok War: Wie Russland und die Ukraine TikTok zum Schlachtfeld machen“ ist unter www.youtube.de/vollbild und in der ARD-Mediathek abrufbar.
Tiktok-Krieg im Kinderzimmer
Thomas…