Von Denis Trubetskoy, Kiew 23.08.2022, 20:08

Dieser Mittwoch ist ein symbolträchtiger Tag: Es markiert ein halbes Jahr seit Beginn des russischen Angriffskrieges. Gleichzeitig feiert die Ukraine ihren Unabhängigkeitstag. Trotz Raketenangst ist von Kriegsmüdigkeit keine Rede. Als die unabhängige Ukraine im vergangenen Jahr 30 Jahre alt wurde, feierte sie das stolze Jubiläum unter anderem mit einem großen Konzert. Der 24. August 2022, der auch sechs Monate seit der russischen Invasion markiert, wird ganz anders aussehen – keine Feiertage. Das Risiko eines massiven Raketenstarts der Russen an diesem symbolischen Datum ist sehr hoch. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat bereits dazu aufgerufen, Flugwarnungen nicht zu ignorieren. Offensichtlich nicht die besten Voraussetzungen für einen der wichtigsten Feiertage des Jahres hierzulande. Das Leid, das die Ukrainer in den letzten sechs Monaten erlitten haben, ist immens. Aber die Ukraine hat noch nie einen wichtigeren Unabhängigkeitstag erlebt. Seit Jahrhunderten kämpfen die Ukrainer für ihre Identität, gegen die Unterdrückung ihrer eigenen Kultur und Sprache und für ihre Staatlichkeit. Auch wenn der Zusammenbruch der Sowjetunion aus heutiger Sicht logisch erscheint, kam er 1991 ziemlich plötzlich. Damals bekamen die Ukrainer, was sie wollten, ohne damals damit zu rechnen – und damit mussten sie sich erst abfinden. Als Putin am 21. Februar 2022 mit seiner großen Rede sein eigenes Volk auf den Krieg vorbereitete, sprach er der Ukraine das Existenzrecht auf allen Ebenen komplett ab. Doch sechs Monate nach Beginn der „Sonderoperation“ steht die Staatlichkeit der Ukraine trotz einiger realer Gebietsverluste außer Frage. Im Gegenteil: Mehr als 90 Prozent der Ukrainer glauben noch immer an den Sieg – und die Klischees über die gespaltene ukrainische Gesellschaft sind endgültig überholt.

Die Ukrainer haben ihre Unabhängigkeit noch nie so geschätzt wie heute

Tatsächlich geschah dies bereits im Frühjahr 2014 mit der russischen Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges im Donbass, als der neue Kampf um die Unabhängigkeit der Ukraine so richtig begann – gegen einen aggressiven Nachbarn, der sich über die bloße Existenz ärgert eine ukrainische Identität hat und gleichzeitig eine Atommacht ist. Im überwiegend russischsprachigen Südosten gab es durchaus Menschen, die mit der Politik der Regierung in Kiew unzufrieden waren. Allerdings blieb nur eine marginale Minderheit pro-russisch. Nun ist jede Russlandfreundlichkeit in der Politik für mindestens mehrere Jahrzehnte komplett ausgelöscht. Viele Ukrainer, die früher im Alltag Russisch gesprochen haben, wechseln ins Ukrainische. Niemand weiß, wie lange dieser Krieg dauern wird und welche zusätzlichen Opfer die Ukraine für ihre Unabhängigkeit bringen muss. Auch wird die ukrainische Gesellschaft wahrscheinlich nie heterogen sein. Dafür ist das Land zu groß und politisch zu bunt, wie schon die Revolutionen von Orange und Maidan gezeigt haben. Aber noch nie in diesen 31 Jahren haben die Ukrainer insgesamt ihre Unabhängigkeit so sehr geschätzt wie heute. Und nie zuvor hatten sie die klassische ukrainische Literatur verstanden, über die sich viele in der Schule lustig machten, weil sie vor allem von Unterdrückung und Leid handelt.

Das Leben kehrt nach Kiew zurück

All dies führt dazu, dass von Kriegsmüdigkeit in der Ukraine praktisch keine Rede mehr ist. Natürlich sind die Menschen müde nach diesen schrecklichen sechs Monaten, natürlich sehnen sie sich nach einem Leben in Frieden. Aber es ist ein Krieg, den die Ukraine nicht will, von dem die Existenz des Landes abhängt – und sie ist einfach nicht bereit für einen schlechten Frieden, der auf einem faktischen Kapitulationsabkommen basiert, wie es die Minsker Vereinbarungen waren. Den Konflikt noch einmal zu verschieben mit der Gewissheit, dass Russland in ein paar Jahren wieder angreifen wird, würde den Ukrainern nichts nützen. Frieden ist nur aus einer Position der Stärke zu erreichen – dieser Konsens der Ukrainer übertrifft alle Müdigkeit. Trotz dieser Realität und trotz ständigem Fliegeralarm versuchen die Menschen zunehmend, ihren Alltag so normal wie möglich zu gestalten. Das ist auch der Wunsch der ukrainischen Regierung, die sich unter anderem dafür eingesetzt hat, die neue Saison der ukrainischen Fußballliga trotz des Krieges zu Hause auszutragen. Die Behauptung der Kiewer Stadtverwaltung, es würden wieder drei Millionen Menschen in der Hauptstadt leben, erschien eine Zeit lang nicht glaubwürdig. Aber im Moment sieht es danach aus. Die Innenstadt füllt sich, Cafés werden immer voller, obwohl die meisten Ukrainer Einkommen verloren haben. Auch sind wieder deutlich mehr Autos unterwegs, weil von der früheren Spritknappheit keine Spur mehr war. Anders als im Frühsommer lebt Kiew wieder. Auch dies ist ein Zeichen der Stärke, die die Ukraine angesichts dieses blutigen russischen Angriffs zeigt. Richtig feiern können die Ukrainer erst nach dem Sieg über Russland. Doch an diesem Unabhängigkeitstag gibt es trotz aller Not genug Gründe, stolz auf sich und sein Land zu sein, auch wenn der ukrainische Unabhängigkeitskampf noch lange nicht beendet ist.