BILD sprach exklusiv mit dem ehemaligen Berliner Finanzsenator und Bestsellerautor („Deutschland macht sich selbst los“) über den Verzicht auf den gesunden Menschenverstand bei Regierenden. Und warum sich die Laterne dringend wieder erholen muss… BILD: Herr Sarrazin, Sie werfen der Ampelregierung Sturheit und Ideologie vor. Warum; Thilo Sarrazin: Schauen Sie sich einfach den Kooperationsvertrag an. Der Familienpolitik ist ein ganzes Kapitel gewidmet – und die Worte “Vater und Mutter” werden nie im Kontext erwähnt. Im Gegenteil, er sagt: Familie ist dort, wo man sich umeinander kümmert. Das ist Ideologie in ihrer reinsten Form! Dann wäre auch der Unteroffizier in der Kaserne und seine Untergebenen „Familie“. Reiner Quatsch mit dem Ziel, das Familienbild in unserer Gesellschaft neu zu definieren, die ideologische Führung der Bürger. Solches Wunschdenken gipfelt in dem Ziel der Laterne, „ein konfliktfreies Zusammenleben von Weidetieren, Menschen und Wölfen zu schaffen“. Aber Tatsache bleibt: Wölfe fressen Weidetiere. Der Mensch wird diese Tatsache nicht ändern.

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BILD: Die Laterne opfert also dem Wunschdenken den Grund? Sarrazin: Leider ja. Das gilt auch für die Bildungspolitik, die immer noch davon ausgeht, dass alle Menschen gleich sind – gleich begabt, gleich intelligent. Also sollten alle die gleiche Bildung haben und um Himmels willen niemals „auserwählt“ werden. Wohin diese Politik führt, sehen wir im Berliner Schulsystem, wo derzeit bis zu 70 Prozent der Schüler nach der 8. Klasse nicht richtig rechnen, lesen oder schreiben können. Sie können nicht trainiert werden. Auch interessant BILD: Katastrophe mit Ansage? Sarrazin: Ja, denn es zeigt: Eine Politik, die sich den Naturgesetzen entziehen will, ist zum Scheitern verurteilt. Jeder Physiker erkennt nach einigen fehlgeschlagenen Experimenten, dass seine Theorie falsch ist. Unsere Politiker müssen jetzt diese Einsicht haben: Es war ein Fehler, sich beim Erdgas einseitig auf Russlands Despoten Putin zu verlassen! Es war ein Fehler, die Atomkraft nach Fukushima komplett abzuschaffen! Es war ein Fehler, die Bundeswehr auf Hungerkur zu setzen, damit wir beim Einmarsch Russlands in die Ukraine mit leeren Händen dastehen. „Frieden ohne Waffen schließen“ war und ist ein historischer Irrtum, der auf dem Prinzip basiert, dass, wenn ich nicht aggressiv und freundlich bin, alle anderen auf der Welt keine andere Wahl haben, als auch nicht aggressiv und freundlich zu sein. Die Vernunft lehrt dich, solche Irrwege nicht noch einmal zu gehen!

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BILD: Wer sind Ihrer Meinung nach die „Feinde der Vernunft“? Sarrazin: Alle Ideologen, die mit vorgefassten Wahrheiten an die Realität herangehen und nur das wahrnehmen wollen, was ihre Meinung bestätigt. Ob links oder rechts im politischen Spektrum, der Marxist sieht überall die Ausbeutung der Arbeiter durch das böse Kapital. Sozialisten sehen überall die Gleichheit bedroht und klassische Nationalisten fürchten um die Ehre und nationale Identität der Nation. Jeder hat seine eigene Meinung. Doch gefährlich wird es, wenn alle aufeinander schlagen und die Realität unter die Räder kommt. BILD: Menschen, die sich nicht nach dem biologischen Schema „männlich oder weiblich“ einordnen lassen wollen, kämpfen derzeit um eine Art drittes Geschlecht. Sie fühlen sich diskriminiert… Sarrazin: Die Intensität der Emotionen sagt etwas über die Gemütsverfassung dieser Menschen aus – aber sie ändert absolut nichts an den Tatsachen! Unsere Chromosomen bestimmen, ob wir männlich oder weiblich sind. Das lässt sich zweifelsfrei für 99 Prozent der Menschheit sagen. Wer das Gefühl hat, als Mann im Körper einer Frau zu leben oder umgekehrt, kann sich operieren lassen, sich einen neuen Namen geben – und dafür Respekt verdienen. BILD: Aber…? Sarrazin: Diese Person hat jedoch nicht das Recht, ihre Gefühle allen anderen allgemeinverbindlich aufzuzwingen. Im Sport beispielsweise ist es unehrlich, wenn sich ein leiblicher Mann als Frau beim Standesamt anmeldet, um dann alle „echten“ Frauen im Sport oder Fußball zu schlagen. Wenn die deutsche Frauen-Nationalmannschaft ein paar genetische Männer kaufte, könnten sie jahrelang jeden Gegner schlagen – und sogar auf die versprochene Vielfalt verweisen. Aber es würde grob unfair bleiben!

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BILD: … und die Logik bleibt auf der Strecke …? Sarrazin: Ja, denn wahrgenommene Realität ist nicht gleich Realität. Dasselbe erleben wir bei Millionen von Impfgegnern. Jeder kann Risiken und Nutzen der Corona-Impfung für sich selbst abwägen. Aber wenn meine Ideologie, mein Gefühl, mir rät, keine Impfung zu machen, dann bin ich erstmal gegen Impfung – und suche dann im Internet nach passenden Argumenten. Dazu gibt es tausende Seiten im Internet… BILD: Facebook, Twitter und Co. Sie liefern mir hauptsächlich Beweise, die meine Meinung bestätigen … Sarrazin: Korrekt. Wer es wissen wollte, nutzte früher Allgemeinwissen, Brockhaus und vielleicht einen Freund, der sich mit dem Thema auskannte. Und wenn das nicht geholfen hat, dann könnte man offen zugeben: Ich habe dazu keine Meinung, ich weiß noch nicht genug. Heute ist jeder nur noch zwei Mausklicks vom scheinbaren Expertenstatus entfernt. Jeder fühlt sich gezwungen, zu allem eine Meinung zu haben und diese in den sozialen Medien zu verbreiten. Das schadet der Streitkultur extrem. Aber das fördert den Wissensstand in der Welt überhaupt nicht. Vorurteile, Eigensinn und Ideologien führen zu Fehleinschätzungen, nicht zu Lösungen. Das Cover von Sarrazins neuem Buch: „Die Vernunft und ihre Feinde“ (Langen Müller Verlag, 392 Seiten, 26 Euro) Foto: LMV-Verlag